Gedanken einer sterbenden,
unbekannten Hauskatze
Es war ein regnerischer Tag, als ich von meinem Zuhause noch einmal einen
Streifzug durch die große Wiese machen wollte. Der Rasen und die Büsche
waren nass und es war mir eigentlich doch zu ungemütlich, bei diesem Wetter
noch draußen zu bleiben. Ich wollte so schnell wie möglich wieder nach Hause,
denn nun fing auch schon wieder der Regen an. Die breite Straße, die mich
von meinem schönen, trockenen Zuhause trennte, schien mir leer, und der
Asphalt glänzte vor Nässe.
Ich lief so schnell ich konnte los - doch das Auto war auf einmal da. So
schnell kam es auf mich zu. Die Scheinwerfer blendeten meine Augen - und
plötzlich spürte ich einen schlimmen, ganz schlimmen Schmerz. Ich wurde
durch die Luft geschleudert und fiel mit meinem Körper auf die Kante der
Straße, die dort angebracht war, weil da ein Rasen und Bäume wuchsen.
Ich hatte so furchtbare Schmerzen, und ich hatte solche Angst.
Als ich mein Köpfchen hob, sah ich das Auto, das mich angefahren hatte,
und ich konnte es nicht verstehen: es fuhr weiter. Es fuhr einfach weiter
und ließ mich hier liegen! Und ich hatte doch solche Schmerzen! Ich versuchte
aufzustehen, doch es ging nicht. Mein Hinterbein tat so schrecklich weh, und
auch das Luftholen fiel mir furchtbar schwer.
Jetzt fing es auch noch ganz stark zu regnen an, und ich spürte, wie sich um
mich herum eine Pfütze bildete. Das Wasser auf der Straße wurde immer
höher und ich hatte kaum noch Kraft, meinen Kopf hochzuhalten. Wasser lief
in meine Nase, lief in meinen Mund, und es tat so furchtbar weh!
Autos fuhren an mir vorbei. Es waren viele Autos, und immer wieder
versuchte ich, mein Köpfchen zu heben, damit die Menschen, die in den Autos
fuhren, sehen konnten, dass ich Hilfe brauche - doch keiner hielt an. Ich
weinte vor Schmerzen, doch niemand sah meine
Tränen. Niemand war da, sie fuhren alle an mir
vorbei. Ich fühlte, dass mein Leben zu Ende
ging, und ich wollte doch gar nicht sterben!
Ich war doch immer lieb gewesen! Ich habe doch
so gern mit den Menschen geschmust und sie nie
gekratzt. Ich habe doch auch meinen kleinen
Menschenfreund mit seinen Eltern rechtzeitig
geweckt, als das Feuer ausgebrochen war! Habe
ich mich nicht immer mit Zärtlichkeiten bedankt
und meine Liebe zu den Menschen gezeigt, weil
ich ihnen so vertraute? Ich fing an zu frieren. Es war so kalt, und ich hatte
so entsetzliche Schmerzen! Warum, ihr Menschen, fahrt ihr alle an mir
vorbei? Warum helft ihr mir denn nicht? Ich möchte noch nicht sterben! Ich
bin doch erst drei Jahre alt!
Ich weiß nicht, wie lange ich in dieser nassen Pfütze gelegen habe. Ich wurde
auf einmal ganz müde. Ich versuchte, mein Köpfchen aus der Pfütze
herauszuhalten, doch ich hatte keine Kraft mehr. Mein Kopf fiel ins Wasser
zurück und ich dachte: "Jetzt ist es aus. Jetzt stirbst Du."
Da - auf einmal waren Menschen da. Sie streichelten meinen kalten Körper
und hoben mich hoch. Ich wurde in eine Jacke eingewickelt und vorsichtig in
ein Auto getragen. Ich freute mich, trotz meiner schlimmen Schmerzen, so
sehr! Es gab doch noch gute Menschen, die mir helfen wollten. Sie fuhren
mich zu einem Tierarzt, der ganz in der Nähe war, und ich versuchte ganz
ruhig zu bleiben, damit ich meine Schmerzen besser ertragen konnte. Die
Menschenfrau, die mich trug, streichelte mich unentwegt, die beiden Kinder
im Auto weinten vor Sorge um mich, und die Fahrerin bemühte sich,
vorsichtig zu fahren, damit ich keine Erschütterungen spürte.
Ich dachte an meine Familie zu Hause, an die guten Leckerchen, die ich
immer bekam, und ich freute mich so sehr, dass man mir helfen wollte. Die
fremden Menschen waren so besorgt, und wie gern wollte ich weiterleben in
dieser Menschenwelt! Ich hörte die Fahrerin sagen: "Endlich, wir sind da -
jetzt wird alles gut!" - da wurde es um mich plötzlich dunkel und kalt, und
ich spürte - es war zu spät! Ich hatte keine Kraft mehr in meinem Körper
und fühlte keine Schmerzen mehr! In den Armen der fremden Frau schlief ich
für immer ein, als sie mit mir an der Haustür des Tierarztes stand.
Danke, den Menschen, die mich nach endlos langer Zeit schwerverletzt
mitnahmen, um mein Leben zu retten; danke den beiden Kindern, die vor
Sorge um mich, einer unbekannten Hauskatze, weinten und Verachtung den
Menschen, die so herzlos sind, an einem schwerverletzten Tier
vorbeizufahren ...
(Quelle: Barbara Hickmann)
Besinnliches